‘Ordnungsgemäße Überführung’
Eine schonungslose und umfassende Darstellung der Vertreibung der Deutschen
Kein Deutscher, ein Ire ist der Autor der ersten Gesamtdarstellung der Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Ray M. Douglas, Professor für Geschichte an der Colgate University in Hamilton (New York), hatte sich bisher mit irischer und britischer Zeit-, Parteien- und Kolonialgeschichte beschäftigt. Deutschen Historikern, die über die Nachkriegsvertreibungen gearbeitet haben, war er nicht bekannt. An seinem jüngsten Buch jedoch wird sich künftig jede weitere historische Erzählung der Nachkriegsverbrechen an der deutschen Bevölkerung Ost-, Mittel- und Südosteuropas messen müssen.
Die deutsche Debatte, schreibt Douglas in seiner Einleitung, konzentriere sich darauf, wie man die Vertreibungen „erinnern und sie darstellen soll, nicht woran erinnert werden soll” – und dies, obwohl über fast alle wichtigen Fragen erhebliche Meinungsverschiedenheiten herrschten. Nicht irgendwelche Tabus, sondern schlicht „Gleichgültigkeit und Unwissen unter Historikern und in der Öffentlichkeit” hätten in Deutschland einem „ruhigen und produktiven Umgang” mit ihrer Geschichte entgegengewirkt. Für den Rest der Welt seien die Nachkriegsvertreibungen bis heute „das am besten gehütete Geheimnis des Zweiten Weltkrieges”. Zwar hätten Historiker aus den Vertreibungsstaaten nach 1989 bahnbrechende Studien vorgelegt, die von deutschen und amerikanischen Historikern erweitert und ergänzt worden seien. Eine Studie aber, welche die Vertreibungen von allen Seiten her betrachte, habe es bisher nicht gegeben. Das zu leisten, habe er sich vorgenommen.
Unbeirrt von den erinnerungspolitischen Einlassungen deutscher Bedenkenträger stellt Douglas mit einer Fülle von Belegen dar, was geschehen ist. Dabei räumt er der Reihe nach mit den Mythen auf, die dem Urteil über eines der größten Verbrechen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts entgegenstehen. Das erste Kapitel heißt „Der Planer” und beschäftigt sich vorwiegend mit der Rolle des tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Benes, den der Autor als „dünnhäutig, überaus selbstgerecht, kalt und nachtragend” schildert. Benes erwartete sich vom Ausgang des Zweiten Weltkrieges die einmalige Gelegenheit, „das nationale Projekt der Tschechoslowakei zu vollenden” – nämlich die „Säuberung” des slawischen Staates von Deutschen und Magyaren. Das einzig mögliche Mittel zu diesem Zweck sei die „Lösung des Minderheitenproblems durch Massenvertreibung” gewesen. Ohne die Unterstützung der Alliierten hätte er diesen Plan allerdings nicht realisieren können.
Die politischen Eliten in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten plädierten bereits Ende 1943 mehrheitlich für Vertreibungen als den „heroischen Ausweg” (Herbert Hoover) zur Vermeidung künftiger Konflikte. Anhand zahlreicner Quellen widerlegt Douglas die Legende, die Westalliierten hätten sie lediglich widerwillig zur Kenntnis genommen und auf ihrer „humanen Durchführung” bestanden. „Die Staatschefs der Großen Drei wussten, dass die unmittelbare Nachkriegszeit ihnen nur ein kleines Zeitfenster bot, um die politische und demographische Karte Mitteleuropas neu zu zeichnen und dabei neben einer politischen auch eine soziale Revolution zu bewirken.” Zwar divergierten ihre Zielvorstellungen, aber Stalin, Roosevelt und Churchill sahen in der Vertreibung die „zentrale Komponente der erwünschten Veränderungen”.
Churchill, der sich noch 1941 gegen gewaltsame Umsiedlungen ausgesprochen hatte, änderte seine Meinung unter dem Eindruck des totalen Krieges. In einer Rede vor dem Unterhaus vom 15. Dezember 1944 nannte er sie „das befriedigendste und dauerhafteste Mittel . . . Reiner Tisch wird gemacht werden.” Die ausführliche Darstellung der angloamerikanischen Haltung gehört zu den besonders verstörenden Passagen dieses Buches. Den britischen und amerikanischen Entscheidungsträgern war wohl bewusst, dass die Vertreibung von zwölf bis vierzehn Millionen Deutschen logistisch nicht zu bewältigen war, dass sie in einer humanitären Katastrophe enden und Hunderttausende Todesopfer fordern würde. Aber es war ihnen gleichgültig, denn die deutsche „Kollektivschuld” stand für sie fest, auch Kinder nahmen sie da nicht aus. Die brutale Durchführung der Zwangsumsiedlungen sahen sie „nicht nur als entschuldbar, sondern als kathartisch für die Vertreibungsländer selbst an”. Dass solche Ideen noch keineswegs aus der Welt sind, zeigt Douglas an ähnlichen Vorschlägen amerikanischer Politologen zur Beilegung der Konflikte auf dem Balkan und im Nahen Osten.
Der Autor räumt auch mit der Legende auf, nach den „wilden Vertreibungen” der ersten Wochen nach dem Krieg und den sie begleitenden „Exzessen” spontaner Rache, sei die Aussiedlung nach der Potsdamer Konferenz im Wesentlichen geordnet und human verlauten. Von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen – darunter der Prager Aufstand, der Brünner Todesmarsch und das Massaker von Aussig – „kam es nach der deutschen Kapitulation praktisch nirgends zu spontanen Gewalttaten gegen Deutsche”. Terror und Gewalt gingen vielmehr „auf das Konto von Staatsorganen, die auf Befehl handelten”. Die letzten KZ-ähnlichen Lager wurden erst in den frühen fünfziger Jahren geschlossen. Douglas beschreibt die systematische Gewalt gegen deutsche Internierte, auch gegen Kinder, die Vergewaltigungen und Folterungen, die Zwangsarbeit und den allgegenwärtigen Hunger. So schonungslos und umfassend wurden diese Staatsverbrechen bisher noch von keinem Historiker dargestellt.
Es ist zu erwarten, dass dieses Buch heftige Reaktionen hervorrufen wird. Einige Fehler untergeordneter Bedeutung, die einem fachkundigem Lektorat kaum entgangen wären, dürften die üblichen Beckmessereien provozieren. Den außergewöhnlichen Wert dieser Arbeit aber wird kleinliche Kritik nicht schmälern können.
Ray M. Douglas: Ordnungsgemäße Überführung. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Verlag C.H. Beck, München 2012. 556 S., 29,95 f..
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FAZ vom Montag, den 23.04.2012